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Unterschiede in der Wahrnehmung von Fiktion — und das Problem mit „Hunger Games“

Ich vermute, es ist bereits irgendwo ein kopfschütteln, oder zumindest ein kopfschüttelnder Gedanke über meine Reaktion auf „Hunger Games“ aufgekommen — ein hoch bewerteter Film, in dem 24 Kinder/Jugendliche kämpfen, bis noch einer lebt. Ich habe nach wenigen Informationen beschlossen, ihn nicht im öffentlichen Kino anzuschauen, aber scheue nicht kundzutun, dass der Film nicht gut sein kann.

Nun, das dürfte relativ bekloppt klingen, einen Film einzustufen, bevor man ihn gesehen hat. Und wieso tut man so etwas überhaupt? Da muss ein Fetzen Vorab-Info schon einige Emotion auslösen. Und so ist es auch. in diesem Fall sind es sogar zwei, eigentlich zu viel für einen Blog-Post. Aber da ich ohnehin oft mehr schreibe als andere eigentlich lesen wollen, übe ich mich (Edit: vergeblich ^^) in Kompression.

Der wohl wichtigste Punkt wurde mir erst vor kurzem bewusst: die meisten Leute nehmen fiktive Geschichten völlig anders wahr als ich.

Stellt euch vor, ihr hört ein Stück Musik. Zahllose Melodien, Rhythmen und Stimmen klingen nach- oder miteinander, und der eigene Geist versetzt sich in eine Welt der Gedanken, die immer wieder neu angestoßen oder verändert werden. Es gibt keinen richtigen oder falschen nächsten Moment in der Musik, aber sicherlich solche, die inspirierter sind als andere. Kennt ihr dieses Gefühl? So höre ich Musik, und eine ähnliche Art der Wahrnehmung scheinen viele Menschen beim Filmschauen zu verwenden. Auch ich sehe so einen Film wie IMAX „Planet Erde“ oder den impressionistischen „5 cm/s“. Doch selbst letzterer kratzt schon hart an der Grenze, bei der mein Kopf den Modus wechselt.

Nun stellt euch vor, ihr plant eine Route in einer euch unbekannten Stadt. Ihr spielt ein Strategiespiel mit drei Gegenern, von denen ihr einen kennt und zwei nicht. Ihr wurdet in einen Papagei verwandelt und auf dem Stachus ausgesetzt. Was würdet ihr wirklich tun? Nicht als Zuschauer, sondern als Teilnehmer der neuen Welt. Was, wenn ihr eine euch dargestellte Welt betreten würdet?

Wilkommen auf der anderen Seite. Wo man extreme Probleme bekommt, Geschichten wie Narnia oder Harry Potter auszuhalten. Stellt euch vor, ihr wärt in Hogwarts, und… oh, was zum Teufel? Was für Energie kostet das Zaubern? Wo sind die Schusswaffen hin? Kann ich selbsterhaltende Zauber in endlosen Kombinationen verwenden? Wie konvergiert die Zeit mit derart extremen Eingriffen? Warum tut Voldemort, was er tut? Was ich auch betrachte, es zerfällt wieder, sobald ich das nächste Element ansehen möchte. Ist die Welt instabil, oder bin ich zu dumm, sie aufzunehmen? Erwartungen und Vorhersagen sind völlig nutzlos, da regelmäßig ein neues Ereignis alles Bekannte über den Haufen wirft.

(Eine Methode, Harry Potter ohne völligen Bezugsverlust zu erleben, ist das Postulieren eines „Plot Shields“ für Harry, das die Realität um ihn herum verbiegt. Das funktioniert wunderbar, und macht das Zusehen auch sehr entspannend: wer unverwundbar ist, hat wenig zu denken. Mit Denken hat es der Typ eh nicht so besonders, hihi.)

Wer diese Art des Denkens nachvollzieht, dem sollte auffallen, dass ein 24-Personen Free-For-All Deathmatch wie in „Hunger Games“ keinerlei Raum für Auswege lässt; den Film aktiv zu betrachten wird extreme Aufmerksamkeit erfordern, logisch sowie emotional. Insbesondere gibt es zwei Punkte, die der Film sehr sauber erfüllen muss, um nicht ärgerlich oder widerwärtig zu sein.

Erstens: warum es ärgerlich sein kann. Wenn man das Setting als Spiel betrachtet, ist die Dynamik für einen Menschen extrem unintuitiv. Menschen sind einfach keine echten Einzelgänger, insbesondere nicht wir modernen mit unserer Erziehung. Ich habe verschiedene FFA-Last Survivor Deathmatch Spiele gespielt, und beherrsche sie immer noch so gut wie gar nicht. Es ist schwer, andstrengend und manchmal geradezu abstoßend, auf solchen Bahnen zu denken. Aber in „Hunger Games“ muss ich erwarten, dass die Mitspieler im Film es annehmbar beherrschen; immerhin hängt ihr Leben davon ab, und laut Setting wird ihnen das Thema nicht neu sein. Stark erklärungsbedürftiges Verhalten müsste an der Tagesordnung sein, wie zum Beispiel das Töten eines bisher Verbündeten im Moment der Durchsage eines toten Mitspielers. Sollte der Autor nicht dazu in der Lage sein, solche sehr unintuitiven Sitationen zu simulieren, so erfährt der Zuschauer Müll. Schwer erkennbaren Müll. Das ist besonders ärgerlich, wenn man den Film versehentlich als Erfahrung in das Bewusstsein einfließen lässt. Wer jetzt behauptet, dass so etwas doch nicht passiert, der unterschätzt massiv die unterbewusste Wahrnehmung — und hat mangels bewusstem Gegensteuern vermutlich selbst bereits eine verfälschte Wahrnehmung.

Und damit wären wir bei zweitens: warum der Film widerwärtig sein kann. Ein jüngerer, weniger erfahrener Zuschauer, der zur Gruppe der „Weltenbetreter“ gehört, könnte leicht „Erfahrungen“ aus der beschädigten Welt aufnehmen. Und damit meine ich sie ganz explizit:

die glorifizierte Gewalt.

Um dieser Anschuldigung zu widerstehen, reicht bei Weitem nicht, dass ein Kind „bitte nicht“ heult während ihm jemand mit unpassender Bewaffnung das Leben nimmt. „Hunger Games“ müsste Szenen enthalten, in denen instinktive Tötungshemmungen wirksam werden. Wenn irgendjemand dazu in der Lage ist, diese auszulösen, dann Kinder knapp über 12 mit Todesangst. Der Film sollte weiterhin nicht-lethale sowie langsam lethale Treffer enthalten, außer die Welt ist speziell für saubere Tode ausgelegt; dann muss der Pfeil auf dem Cover allerdings mit starkem Nervengift behandelt sein. Lungen-Deflation, Kämpfen mit gebrochenen Gliedmaßen, Schwäche durch Blutverlust, solche Elemente sollten ausreichend vertreten und sauber dargestellt sein, außer man hat eine verdammt gute Erklärung.

Denn wenn nicht, was ist dann die Intention des Films, wenn nicht genau das, dessen Grausamkeit er angeblich beschreibt: Unterhaltung durch Gladiatorenkinder, mit den unbequemen Szenen hinter der Zensur?

Und dann lese ich: PG-13. Das kann nicht richtig sein. Selbst wenn wenig Versuche stattfinden, den eigenen Körper zu verkaufen, müsste die schiere Brutalität selbst bei den Amis jede Grenze überschreiten. Und zwar die psychische sowie die physische. Eigentlich fällt mir kaum ein Bewertungskriterium für Altersbeschränkung ein, bei dem nicht jede Grenze überschritten werden müsste.

So, und da habt ihr’s: ausgerechnet FD fordert mehr Jugendschutz. Ich möchte für den Film nicht zahlen, bevor meine Befürchtung widerlegt wurde. Das Ding klingt ausnahmsweise mal wirklich gefährlich. Sucht mal nach einem „Teens React Hunger Games“ Video; in der Reaktion der jungen Fans stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Die Emotionen, die ich sehe, sind zu positiv, suchen den „Kick“ der Vorstellung dieser Welt, möglicherweise (und hoffentlich!) in grob unrealistischer Form.

Falls das wahr ist, traue praktisch keinem Jugendlichen zu, den Film korrekt verarbeiten zu können. Sie sollten ihn nicht sehen; ich würde ihn einem jüngeren ich nicht zeigen wollen. Wenn jemand einen solchen Film als Erfahrung wahrnimmt und dabei derart positive Emotionen empfindet, wie sie bei den Fans aufzutreten scheinen, dann ist das wirklich beunruhigend.

Während ich diesen Post geschrieben habe, hat jemand den Film angesehen und mir gerade ein paar Kommentare gegeben. *hust* ihr ahnt, wer das um die Uhrzeit tut, er hatte natürlich identische Vorurteile. Trotzdem ist das Urteil nach wenigen Beispielen ziemlich eindeutig richtig. Nun kann ich feststellen, dass meine Vorhersagen akkurat waren — eher noch zu konservativ — und das Thema um 3:30 nachts abhaken.

Bei diesem Gedanken muss ich zum Glück nicht prüfen, ob die Welt, aus der er stammt, auch ausreichende Qualität hatte.

3 Antworten auf „Unterschiede in der Wahrnehmung von Fiktion — und das Problem mit „Hunger Games““

(Achtung, Spoiler)
Ich habe den Film gesehen. Ich stimme dir zu, FD, der Film ist definitiv nicht für unter 17-jährige (+-1 Jahr) geeignet (abhängig von der individuellen psychischen Stabilität des Jeweiligen).
Und FD, die Jugendlichen im Film nehmen nicht freiwillig an den Hunger-Spielen teil, sie und ihre Eltern würden auf die Spiele gerne ganz verzichten. Ich weiß nicht ob dir das klar war.

Der Film zeigt nicht-tödliche und langsam tötende Treffer. Die sehr jungen (~12 Jahre) „Tribute“ (so heißen die Hunger-Games-Teilnehmer) töten praktisch niemanden, sondern werden alle von den Älteren getötet.
Ein paar der Tribute zeigen Tötungshemmungen, insbesondere die Hauptcharaktere und es bilden sich Bunde. Am Ende müsste sich der letzte Bund natürlich gegenseitig abschlachten, aber das umgeht der Film geschickt, indem zum Beispiel Bundmitglieder durch giftige Tiere sterben.

Eine Frage wie zum Beispiel die nach dem Energieverbrauch eines Zaubers oder fehlenden Schusswaffen in Harry Potter stellte sich mir auch in Hunger Games: ist die dargestellte Gesellschaftsform stabil? Die Hunger-Spiele finden nun schon seit 74 Jahren statt, d.h. es wurden bei Filmbeginn bereits 73*23 = 1679 Jugendliche geopfert.
Ich behaupte, dass es bereits nach den ersten Hunger-Spielen Aufstände hätte geben müssen und erst recht nach den 50. Hunger-Spielen. Im Antiken Rom gab es keine Aufstände nach Gladiatorenkämpfen. Das kann ich zum Teil nachvollziehen und akzeptiere es. In der Welt von Hunger Games tue ich das nicht: die Menschen der 12 Distrikte, aus denen Tribute entsendet werden müssen, sind zutiefst unzufrieden. Und trotzdem rebellieren sie nicht mal nach 1679 Opfern?? (Im Film, also während den 74. Spielen, randalieren sie ein bisschen, rebellieren aber nicht.)
Meine Erwartung an den Film war aber, dass die Psychologie der Gesellschaft erklärt wird, warum diese Gesellschaftsform über ein halbes Jahrhundert hinweg unverändert blieb. Ein individuelles Hunger-Spiel als Action-Einlage wäre okay oder sogar passend gewesen.

Der Film zeigt aber hauptsächlich nur die Action-Einlage. Er präsentiert zwar den Ist-Zustand der Gesellschaft und erwähnt in einem Satz wie es dazu kam. Das fand ich interessant, war aber in wenigen Minuten erledigt. Der Rest des Films handelt von den 74. Spielen als solche und zeigt wie einer nach dem anderen stirbt.

Mit anderen Worten: ich empfehle den Film nicht, da ihm die Hälfte fehlt.

Mist jetzt hat Flip so ziemlich alles gesagt, was ich auch sagen wollte!

Dazu auch gleich:
Ich glaube nicht, dass die Distrikte die Gesamtopferzahlen interessieren.
Es sind eben nur jedes Jahr aus jedem Distrikt nur 2 Leute.. wenn sie einen weiteren Aufstand anzetteln würden, wären das wohl auf einen Schlag zehntausende Tote, das ist es ihnen wohl nicht wert.

Bezüglich der Gesellschaft hoffe ich einfach, dass dies noch stärker in Teil 2 oder 3 dargestellt wird.
Habe gehört die Buchvorlage von Teil 1 soll eigentlich noch gewalttätiger sein und ebenso stärker auf die Beziehungen der Hauptcharaktere eingehen, also fast eine Liebesgeschichte sein. Finde also die Richtung die der Film gegangen ist gar nicht so schlecht. Würde den Film schon empfehlen, aber eben auch erst ab ca 16

Ich kann allein aus den Informationsfetzen große Mengen logischer Probleme aufbauen. Die meisten hängen damit zusammen, dass sich in solchen Umständen Kinder emotional eher so entwickeln wie in Afrikas Kriegsgebieten, und schnellstmöglich die wichtigsten unintuitiven Verhaltensregeln aufnehmen.

Mit langsam meine ich folgendes:

Die Tode werden global angegeben. Das heißt, die Ansage bestimmt, wann sich bisher vebündete angreifen. Das heißt, es ist eine gute Taktik, einen besiegten Gegener zu verstecken und so langsam wie möglich sterben zu lassen, damit die Information nicht verbreitet wird und man selbst als erster die „Verbündeten“ angreifen kann.

Grundsätzlich absurd: ich kann mir keine so unorganisierte Gesellschaft vorstellen, dass die gemeldeten Kinder nicht ausschließlich „freiwillige“ sind, die bei Nichtmeldung getötet bzw. ihre Familie geächtet wird. Die Gesellschaften wollen selbst entscheiden, wer teilnimmt, was auch sehr vernünftig ist.

Ich suche mir einen Webstream, damit die „du hast ihn doch nicht gesehen“ Stimmen verschwinden… wenn ihr seht, was mein Kopf so sieht, macht der eine oder andere Hollywood-Stil nun ech keinen Unterschied mehr, es ist alles gleich lächerlich.

Edit nach dem Film: es gibt nichts zu sagen, außer dass die Schönung der Gewalt jeder Beschreibung spottet, und die Erklärungs- und Logiklücken auch. Come on, sagt mir, dass das nur meine Einbildung ist, weil ich es erwartet habe! In dem Film sterben gar nicht alle ganz schnell und mit der Kamera sonstwo, und die Perspektive ist doch total konsistent gewählt.

Disturbed – Sons of Plunder. Endlosschleife. Give it to me, give it to me! You like it?

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